Geschichte der Beratung: Was soll ich tun?

Vom Orakel von Delphi bis in die moderne Beratungsgesellschaft: Der Germanist und Coach Haiko Wandhoff hat eine Geschichte der Beratung verfasst. Im Interview erläutert er, was uns die Vergangenheit des Ratgebens über seine Gegenwart verrät.

Sie haben sich 3000 Jahre Geschichte der Beratung angeschaut und bezeichnen die antiken Orakelsprüche als eine Urszene des Beratungshandelns. Das müssen Sie erklären...

Haiko Wandhoff: Die antiken Orakel waren ein Anziehungspunkt, zu dem viele Menschen gereist sind – oft übrigens über sehr weite Strecken –, um sich Rat zu holen. Man ging davon aus, dass es ein Gott ist, der durch dieses Orakel spricht. Aber diese Sprüche waren so unverständlich, dass sie der Auslegung bedurften, dass man sich gewissermaßen selbst einen Reim darauf machen musste.

Der Ratschlag kommt in dieser Konstellation also in der Gestalt eines Rätsels daher?

Wandhoff: Genau. Die Begriffe Rat und Rätsel sind ja auch verwandt. Die Idee in dieser alten Form der Beratung ist immer, dass hinter den schwer lesbaren Zeichen ein göttlicher Fingerzeig steckt. Auch im Vogelflug konnte so ein Zeichen zu finden sein oder in den Eingeweiden von Tieren. Es geht immer darum, diese Zeichen zu lesen und den Göttern ihr Wissen über die Zukunft abzuluchsen. Diese geben das aber nicht so einfach preis und verrätseln es.

Welche Merkmale des Ratschlags, die bis heute Gültigkeit haben, sind schon bei den antiken Orakeln zu erkennen?

Wandhoff: Die Konstante ist, dass beim Ratgeben die Entscheidung immer bei mir selbst als Ratsuchendem liegt. Einen Rat kann ich auch ablehnen. Ich setze ihn so um, wie ich es für richtig halte. Ein Rat ist kein Befehl und auch keine Belehrung. Eine weitere Konstante ist, dass Beratung Zeit verschafft. Ich schiebe eine Zeitspanne zwischen die Überlegung, etwas zu tun, und die Ausführung dieser Handlung. Dieser Aufschub verschafft uns die nötige Zeit zur Selbstreflexion.

Mit dem Beginn des Mittelalters verblasst die antike Beratungskultur ein Stück weit. Was ändert sich durch Figuren wie Fürstenberater oder Sekretäre, denen im Mittelalter große Bedeutung zukam?

Wandhoff: In der Feudalgesellschaft des frühen Mittelalters ist Beratung politisch institutionalisiert. Ein Herrscher ist nur dann ein guter Herrscher, wenn er sich beraten lässt. Die Figur des Sekretärs steht für eine Professionalisierung der Beratung im späten Mittelalter. Das Herrschaftshandeln wird so komplex, dass es nicht mehr ausreicht, nur Verwandte oder andere Adlige zum gemeinsamen Ratschluss zusammenzurufen. Zu diesen hat der Herrscher zwar Vertrauen, aber ihnen fehlt zunehmend die Fachexpertise. Deshalb gehen die Herrscher dazu über, professionelle Berater zu suchen (übrigens nur Männer!), die dann eben nicht aus dem Adel kommen. Da taucht dann das Problem des Vertrauens auf, das in der Beratung auch eine Konstante ist.

Ohne Vertrauen keine Beratung?

Wandhoff: Exakt. Die Initiative geht in einer echten Beratungssituation fast immer vom Ratsuchenden aus. Er sucht sich jemanden aus, zu dem er Vertrauen hat. Das ist wichtig, weil der Ratsuchende sich offenbart, von seinen Nöten erzählt oder auch seine Besitztümer offenlegt. Der zentrale Stellenwert des Vertrauens bei der Beratung ist auch schon in den älteren Kulturen beschrieben worden. Ein weiterer Umbruch zeichnet sich in der Beratung mit dem Beginn der Neuzeit ab.

Braucht das aufgeklärte, freie und selbstbestimmte Subjekt der Neuzeit überhaupt noch Rat von außen?

Wandhoff: Eigentlich ist das neuzeitliche Subjekt extrem beratungsbedürftig, weil sich so viele Dinge verändern, das Leben komplexer wird und die alten Traditionen nicht mehr da sind, über die ein Großteil des Wissens automatisch weitergegeben wird. Aber es kommt etwas anderes hinzu, das die Situation verzwickt macht. Dieses neue Subjekt der Aufklärung soll ja eigentlich alles aus sich selbst heraus lösen und bewältigen. Das ist ein Widerspruch, der in der Moderne auftaucht.

Wie löst die Moderne diesen Widerspruch auf?

Wandhoff: Zum Bespiel durch Ratgeberliteratur. Man fängt an, Rat in Büchern zu suchen. Das funktioniert insoweit, als sie die Autonomie des Subjekts nicht gefährden. Man kann in ein Buch schauen, aber das merkt keiner. Man muss nicht zugeben, dass man gerade nicht selbst mit der Situation klarkommt. Andererseits entstehen im Zuge der Industrialisierung immer mehr staatliche und gesellschaftliche Beratungsinstitutionen. In erster Linie geht es dabei um Berufsberatung. Vor allem in den Städten entstehen ganz neue Berufe, die erst einmal vermittelt werden müssen. Diese Situation ähnelt der Gegenwart, in der sich die Arbeitswelt durch die Digitalisierung stark wandelt. Ein dritter Punkt ist, dass Beratung in der Moderne neu konzipiert wird. Es entstehen neue, sozusagen Autonomie-verträgliche Beratungsformate, die das Subjekt nicht einschränken oder bevormunden, sondern ihm Hilfe zur Selbsthilfe anbieten.

Ein Modell, das sich großer Nachfrage erfreut. In der Gegenwart gibt es kaum noch einen Lebensbereich, für den es keine Beratungsangebote gibt. Was ist die Triebfeder hinter dieser Entwicklung?

Wandhoff: Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass Veränderung zum Dauerzustand wird. Dadurch wird es immer schwieriger, Wissen von einer Generation auf die nächste weiterzugeben. Wir müssen ständig mit Situationen klarkommen, mit denen wir noch keine Erfahrung haben und unsere Eltern auch nicht. Ich glaube, das erklärt, weshalb das Bedürfnis nach Beratung so groß geworden ist und weshalb es inzwischen so viele Angebote gibt.

Welche negativen Kehrseiten hat diese Entwicklung?

Wandhoff: Beratung reproduziert natürlich auch die Vereinzelung des modernen Individuums. Anstatt mich mit anderen zusammenzuschließen, um die gesellschaftlichen Ursachen meines Problems zu lösen, gehe ich alleine in die Beratung, ins Coaching oder die Therapie und gehe auch alleine wieder da raus. Auf diese Weise akzeptiere und bestätige ich meine Beratungsbedürftigkeit immer wieder neu. Je mehr Beratung es gibt, desto schwieriger wird es auch, diese Angebote abzulehnen. Es entsteht ein Erwartungsdruck, sich beraten zu lassen. Das ist eine Ambivalenz der Beratung, der man auch nicht so leicht entkommt. Beratung ist heute eigentlich wieder genauso selbstverständlich, wie sie es vor 2000 Jahren war. Jeder Einzelne ist zum Regierungschef seines eigenen Lebens geworden.

Über den Autor

Haiko Wandhoff ist apl. Professor für Ältere deutsche Literatur an der HumboldtUniversität zu Berlin. Er lebt in Hamburg, wo er als Coach und Berater tätig ist. 2016 erschien sein Buch „Was soll ich tun? Eine Geschichte der Beratung” im Corlin Verlag, Hamburg.

X